75 Jahre Befreiung vom Nationalsozialismus in Europa

Einladung (04. Mai 2020)

Liebe Vereinsmitglieder, liebe Freunde,

hoffe sehr, dass es euch und euren Lieben gesundheitlich gut geht.

Der Vorstand bedauert sehr, dass unsere ursprünglich geplante Veranstaltung zum 8. Mai, „Zeitzeugen berichten, wie sie das Kriegsende in Oberursel erlebt haben“, nicht stattfinden kann.

Nun kam uns die Idee, ob wir zum 8. Mai, dem 75. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus, nicht doch eine kleine Aktion machen! 8. Mai ist ein Freitag. Wir treffen uns, um 17:00 Uhr beim Denkmal. Halten dort kurz inne, und jeder – jede legt Blumen am Denkmal Blumen nieder. Bitte bringt doch eure Blumen mit. In den Gärten und auf den Wiesen blüht schon so viel. Geschäfte freuen sich auch beim Erwerb von einem Sträußchen. Am Denkmal wird eine kleine Rede gehalten.

Danach laufen wir durch die Hospitalstraße zum Rathausplatz. Bei der Ausfahrt der Tiefgarage Stadthalle hat vor vielen Jahren die AG „Nie wieder 1933“ einen Gedenkstein aufgestellt. Der Text von Richard von Weizsäcker auf dem Stein lautet: „Nur wer die Vergangenheit verleugnet, ist in der schrecklichen Gefahr, sie zu wiederholen“ . Dort gibt es ebenfalls eine kurze Rede.

Ich habe bei der Stadt nachgefragt, ob wir die Gedenkfeier durchführen können und welche Auflagen es gibt.

Auflagen:

  • Jeder, jede trägt einen Mundschutz
  • Der Sicherheitsabstand untereinander muss bei der ganzen Veranstaltung jederzeit eingehalten werden und 1,5 m betragen.
  • Ja und was mich etwas traurig stimmt, es können nur 20 Personen daran teilnehmen.

Das heißt, wer von euch an dieser Veranstaltung teilnimmt gibt mir umgehend Bescheid. Die ersten 20 begleiten dann im Namen von allen anderen diese Veranstaltung. Die anderen können im Laufe des Tages schon ihre Blumen am Denkmal ablegen und an den vielen sinnlosen Toten des Nationalsozialismus gedenken. Je mehr Blumen am Denkmal umso machtvoller der stumme Protest gegen die Rechten Ausschreitungen und Hetze gegenüber anderen, die sie nicht akzeptieren wollen.

Viele liebe Grüße
Annette

Fotos vom Blumenschmuck am Denkmal

Befreiung vom Nationalsozialismus vor 75 Jahren

Am 8. Mai 1945, wurden die Nationalsozialisten besiegt. Die Welt konnte aufatmen, der 2. Weltkrieg mit über 55 Millionen Toten war beendet. Gleichzeitig wurde auch das gesamte Ausmaß der Nationalsozialistischen Diktatur sichtbar. Unmenschliche Grausamkeiten, millionenfaches, industrielles Töten und Vernichten von Menschen zeigten sich hinter den Stacheldrahtzäunen in den Vernichtungslagern.

Der Jahrestag der Befreiung jährt sich dieses Jahr zum 75. Mal. In Berlin ist dieser Tag zum Feiertag ausgerufen worden. Der Verein „Initiative Opferdenkmal“ möchte auch hier in Oberursel an diesen historischen Tag erinnern und feiern.

Wo könnte dies besser sichtbar werden als am Denkmal für die Oberurseler Opfer des Nationalsozialismus, an dem der zahlreichen Menschen aus Oberursel gedacht wird, die grausam ermordet wurden. Das Denkmal signalisiert nicht nur Erinnern, gerade heute, wo wieder ungestraft ausgegrenzt und gehetzt werden darf, ist es gleichzeitig ein Mahnmal für das „Nie wieder“.

Am Freitag werden wir daher einen kurzen Gang bis zum Gedenkstein auf dem Rathausplatz machen, der im April 1988 auf Initiative der Arbeitsgemeinschaft „Nie wieder 1933“ aufgestellt wurde und der mit den Worten Erich Weizsäckers eben daran erinnert.

Die Initiative Opferdenkmal trifft sich am Freitagabend am Denkmal. Wegen den Corona-Bestimmungen kann dieser Gedenkveranstaltung leider nur eine begrenzte Anzahl von Menschen teilnehmen.

Fotos der Feier am Denkmal

Redebeitrag Annette Andernacht

Annette Andernacht
Vorsitzende der Initiative Opferdenkmal e.V.

Foto: Maren Horn

Zur Gedenkveranstaltung sprach Annette Andernacht ein paar einleitende Worte:

Heute vor 75 Jahren war am 8. Mai der Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus in Europa. Ursprünglich hatten wir für diesen Tag eine Diskussion mit Zeitzeugen über das Erleben dieser Ereignisse in Oberursel geplant. In Zeiten von  Corona ist alles anders.

Wir wollten aber diesen Tag, der so wichtig ist für uns nicht ganz unbemerkt vorbeiziehen lassen. Daher machen wir heute diese kleine und kurze Gedenkveranstaltung an zwei Denkmälern hier in Oberursel. Hier am Denkmal für die Oberurseler Opfer des Nationalsozialismus gedenken wir derjenigen, die ermordet wurden. Am Gedenkstein auf dem Rathausplatz steht die Forderung des „Nie wieder“ im Mittelpunkt. Wir verbinden heute beide Orte zu einem gemeinsamen Gedenken.

Die Befreiung nicht nur Deutschlands sondern fast ganz Europas vom Nationalsozialismus ist ein Markstein unserer Geschichte. Die Erinnerung an die Befreiung ist die Grundlage für eine Politik des Friedens und der Völkerverständigung. Sie ist zugleich eine Mahnung, Menschenhass, Ausgrenzung, Diffamierung und Entrechtung jederzeit entgegenzutreten.

Ich würde es sehr begrüßen, wenn der 8. Mai nicht nur, wie in diesem Jahr in Berlin ebenso wie in vielen  anderen europäischen Ländern auch in Deutschland  ein Nationaler Feiertag wird.

Redebeitrag von Hans-Georg Brum

Hans-Georg Brum
Bürgermeister der Stadt Oberursel/Taunus

Foto: Manfred Scherbaum

Danach sprach Bürgermeister Brum zu den Versammelten zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs am 08. Mai 2020 vor dem Opferdenkmal in Oberursel:

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,

Der 8. Mai 1945 ist der Tag des Endes des Zweiten Weltkrieges

Am 8. Mai 1945 trat die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht gegenüber den Alliierten in Kraft. Am heutigen 8. Mai jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 75. Mal. Heute gedenken wir dieses Ereignisses. Dazu sind wir am Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus (Opferdenkmal) zusammengekommen. Mit der bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1945 endete nicht nur der von der deutschen Wehrmacht entfachte Zweite Weltkrieg, sondern auch die zwölfjährige Nazi-Diktatur.

Der 8. Mai 1945 ist gleichzeitig der Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus

Deutschland hatte den Krieg verloren. Die Welt feierte damals ausgelassen das Kriegsende und den Sieg über den Hitlerfaschismus. Auch für die Deutschen, die aus politischen, rassistischen oder religiösen Gründen verfolgt wurden, bedeutete dies das Ende des Kriegs und die ersehnte Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.

Die meisten Deutschen aus der Generation unserer Väter und Großväter sahen die Kapitulation damals jedoch nicht als Befreiung, sondern als Zusammenbruch und vernichtende Niederlage gegenüber dem Feind. Das Weltbild war bei großen Teilen der Deutschen nach wie vor durch nationalsozialistisches Gedankengut und Kriegspropaganda geprägt. Aber auch bei ihnen herrschte Erleichterung über das Ende des Krieges, der weltweit über 50 Millionen Menschenleben gefordert hat.

Deutschland lag in Schutt und Asche

Millionen von Soldaten aus vielen Nationen hatten auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs ihr Leben gelassen. Millionen deutscher Soldaten waren in Kriegsgefangenschaft geraten, viele als Kriegsversehrte zurückgekehrt. Viele Städte waren zerstört. Die Menschen hatten keine Arbeit und kaum mehr etwas zu essen.

Das Ende des Kriegs bedeutete für die meisten zunächst das Ende von Angst um Leib und Leben. Für viele Deutsche stand die erste Zeit im Zeichen von Scham und Schande, auch von Ungewissheit und Angst vor der Zukunft. Schrittweise wuchs neue Hoffnung. Aus dieser Hoffnung schöpften die Menschen an dem tiefsten Punkt unserer Geschichte die Kraft für einen Neubeginn. Sie konnten dabei auf dem moralischen Fundament derjenigen Deutschen aufbauen, die den Widerstand gegen Hitler gewagt hatten.

Der 8. Mai 1945 markiert einen tiefen Einschnitt in die Geschichte des 20. Jahrhunderts

Die Befreiung Deutschlands von der Hitler-Barbarei war die Voraussetzung für eine friedliche Entwicklung und Versöhnung zwischen den Völkern.

Am Anfang standen die Zeichen auf Teilung. Deutschland wurde im Zuge der Nachkriegsentwicklung nach den Interessensphären der beiden konkurrierenden Weltmächte USA und Sowjetunion in den kapitalistischen Westen und den kommunistischen Osten aufgeteilt. In den drei westlichen Besatzungszonen nahm eine neue marktwirtschaftliche – auf privatem Eigentum gegründete Ordnung – schon bald Gestalt an. Die Bundesrepublik entwickelte sich rasch zu einer parlamentarischen Demokratie mit Gewaltenteilung nach westlichem Vorbild. Die Deutsche Demokratische Republik wurde ein kommunistischer Staat nach russischem Vorbild. Gemeinsam war auf beiden Seiten der Wille zur Völkerverständigung, zur friedlichen Weiterentwicklung und Koexistenz.

Die unmittelbaren Nachkriegsjahre waren in vielerlei Hinsicht schwierig

Es gibt heute immer weniger Menschen, die die Zeit damals – vor 75 Jahren – bewusst miterlebt haben. Aber auch die Nachgeborenen erinnern sich an die Verhältnisse während ihrer Kindheit und Jugend: an die Kriegsschäden, die noch weit bis in die 60er Jahre sichtbar waren, die Armut in breiten Schichten der Bevölkerung, das Schweigen der Eltern und Großeltern zu Fragen der jüngsten deutschen Geschichte, die autoritären Lehrer an den Schulen und die rechtslastige Justiz des mit ehemaligen Nazis besetzten Staatsapparats. Sie erinnern sich an den materiellen Fortschritt, das westdeutsche Wirtschaftswunder und an den Satz „Wir sind wieder wer!?!“, aber auch an die Ressentiments gegen die ersten Gastarbeiter und die fremdenfeindliche Reaktionen, so als hätten sie nichts gelernt. Dies um nur einige Beispiel zu nennen. Es benötigte viel Zeit und eine neue junge Generation, bis unser Land für weitergehende gesellschaftliche Fortschritte und Reformen wirklich auch offen war. Die Hinterlassenschaften von Faschismus und Krieg haben in Deutschland noch gewirkt und auch bei den Nachgeborenen die Kindheit und Jugend mitgeprägt.

Seit 75 Jahren: Frieden und Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie

Am 8. Mai 1945 hat niemand zu träumen gewagt, dass wir eine dauerhafte Friedensperiode erleben werden. Tatsächlich erleben wir die längste Friedensperiode der jüngeren deutschen Geschichte. Diese hat dem Land und den Menschen gut getan.

Deutschland hat sich durch mehrere Phasen hindurch positiv weiterentwickelt. Wichtig in den Anfangsjahren waren die Verabschiedung des Grundgesetzes, die Einführung der Gewalten-teilung, die Aussöhnung mit den europäischen Nachbarn, die wenige Jahre zuvor noch erbitterte Feinde gewesen waren. Eine starke Initialzündung in den 50er Jahren war das westdeutsche Wirtschaftswunder, das für eine schrittweise Verbesserung des Lebensstandards sorgte. Die zweite Hälfte der 60er Jahre und die 70er Jahre brachten eine Fülle politischer und gesellschaftlicher Reformen, die sich durch starke Bürgerbewegungen in den kommenden Jahren sukzessive fortsetzten. Den Deutschen ging es nicht nur materiell immer besser, sondern die Gesellschaft wurde sehr viel offener, liberaler, kritischer, toleranter … 

Unser Land genießt bereits seit Jahrzehnten weltweit großes Ansehen und Sympathie. Wer hätte das nach dem Krieg für möglich gehalten. Viele haben dazu beigetragen, dass Deutschland heute großes Vertrauen entgegengebracht wird. Dazu gehören vor allem die Menschen, die unser Land aus physischen und geistigen Trümmern wiederaufgebaut haben.

Frieden, Freiheit und Demokratie sind nicht selbstverständlich

Der 8. Mai führt uns besonders eindringlich vor Augen, dass ein Leben in Frieden und Freiheit keine Selbstverständlichkeit ist. Er mahnt uns, auf eine Friedensordnung hinzuwirken, die sich auf die uneingeschränkte Achtung der Menschenrechte und auf das Völkerrecht gründet. Dies ist die entscheidende Lektion aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, in dem die Menschen so viel Leid und Elend gesehen haben. An dieser Stelle möchte ich den Friedensnobelpreisträger und Shoah-Überlebenden Elie Wiesel zitieren:

„Es ist falsch, von der Vergangenheit zu reden, wenn man nicht in der Zukunft handelt.“

Es ist wichtig, die Beschäftigung mit Vergangenem mit der Gestaltung der Zukunft zu verbinden, aus den Erfahrungen aus der Vergangenheit zu lernen, um eine demokratische und friedliche Zukunft zu sichern. Und auch heute gibt es in vielen Teilen der Welt – selbst auf unserem eigenen Kontinent – immer noch viel Not.

Der 8. Mai sollte gerade auch in Deutschland Feiertag werden

Der 8. Mai ist als Tag der Befreiung in verschiedenen europäischen Ländern ein Gedenktag, an dem als Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht und damit des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa und der Befreiung vom Nationalsozialismus gedacht wird.

In vielen Ländern wird der 8. Mai als Feiertag begangen, der an die schrecklichen Ereignisse von Faschismus und Krieg erinnert, an dem der vielen Opfer – der Toten und aller Menschen, die Schreckliches erleben mussten –  gedacht wird. Es ist dies auch der Tag, an dem die Kräfte des Friedens, der Freiheit und der Demokratie gefeiert werden.

Warum bringen wir es in Deutschland bis heute nicht fertig, diesen wichtigen Tag, der den wichtigen geschichtlichen Einschnitt markiert, den Wendepunkt zu einer friedlichen Entwicklung in Europa einleitete, auch als unseren offiziellen Feiertag zu begehen?

Der 8. Mai ist für uns Anlass zum Gedenken

Wir gedenken heute am 08. Mai 2020 der Opfer von Faschismus und Krieg,

… der Verfolgten des Nazi-Regimes, der Millionen Juden, Sinti und Roma, der politisch Andersdenken und Widerstandskämpfern, und der vielen anderen, die verfolgt, unterdrückt, gequält und ermordet wurden.

… der Soldaten, die in den Krieg geschickt wurden, der vielen zivilen Opfer des Krieges, die dort Schreckliches erlebten, die verletzt wurden und ihr Leben ließen.

… der vielen Menschen – Kinder und Jugendliche, Frauen und Männer aller Nationen – , die durch Faschismus und Krieg großes Leid und Elend erlitten haben und zum Teil heute noch darunter leiden.  

Wir bleiben ihnen verbunden in der dauerhaften Verpflichtung für Frieden, Freiheit, Demokratie und Menschlichkeit.

Fotos von der Feier am Rathausplatz

Redebeitrag von Antje Runge

Antje Runge
Sprecherin der Peace AG

Foto: Manfred Scherbaum

Nach einer  Schweigeminute zum Gedenken an die  an die über 55 Millionen Toten, gingen die Teilnehmer gemeinsam zum Rathausplatz, wo Antje Runge für die Peace-AG eine Rede hielt.

Heute ist der 8. Mai 2020. 75 Jahre nach dem Ende des von Deutschland begonnen 2. Weltkriegs. 75 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus. Ein guter Tag und die Stimmen, ihn als Feiertag zu etablieren, werden größer.

Wir stehen hier an diesem Gedenkstein, den die „AG Nie wieder 33“, aus der die Initiative Opferdenkmal hervorgegangen ist, aufgestellt hat. Der Text von Richard von Weizsäcker auf dem Stein lautet:

„Nur wer die Vergangenheit verleugnet, ist in der schrecklichen Gefahr, sie zu wiederholen“.

Ein Satz, den der damalige Bundespräsident am 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag sagte. Es war eine historische Rede, die den 8. Mai in unserer Erinnerung als Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus verankerte. Er sprach davon, dass es keine „Stunde Null“ gegeben habe, sondern lediglich einen „Neubeginn“.

Eine Stunde Null impliziert, alles zuvor Gewesene sei gelöscht worden. Dem war nicht so. Der NS-Staat war zusammengebrochen. Die Waffen schwiegen. Mehr als 60 Millionen Menschen waren tot, davon mehr als 6 Millionen ermordete Jüdinnen und Juden. Der 8. Mai allerdings, war für viele Deutsche lange Zeit zuerst eine Niederlage. Millionen in Kriegsgefangenschaft, Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen, zahllose Vermisste und tote Angehörige, prägten das Bewusstsein vieler Deutschen.

Weizsäcker mahnte, die Ursachen, die zu der Katastrophe geführt hatten, in den Blick zu nehmen. Den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 zu trennen.

Die nationalsozialistische Gesinnung in den Köpfen war nach 1945 noch lange nicht gelöscht. Die Funktionseliten der NS-Zeit waren weiterhin in Gesellschaft und Politik wiederzufinden. Auch im Taunus, auch in Oberursel. Straftaten wurden lange Zeit, der NS-Diktatur als Ganzes zugeschrieben, da sie „von oben befohlen“ waren. Wie aber sah es mit der Auseinandersetzung mit der individuellen Schuld und der Übernahme von Verantwortung aus? Die Deutschen alleinig als Opfer Adolf Hitlers zu betrachten, ist falsch.

Jeder Deutsche trug nach dem Krieg seine Vergangenheit mit sich und musste lernen, damit zu leben. In den Familien wurde wenig über die Vergangenheit gesprochen, teilweise bis heute. Der Publizist Ralph Giordano hat für das kollektive Verdrängen und Vergessen den Begriff der »zweiten Schuld« geprägt.

Weizsäcker vertrat die Meinung, es habe nicht eine, sondern drei Stunden Null gegeben: erstens 1949 mit der Gründung von Bundesrepublik und DDR, zweitens mit der neuen Ostpolitik und dem Kniefall Willy Brandts, und schließlich 1989 mit dem Ende des Kalten Krieges.

Wir haben uns als Deutsche spät daran gemacht, Antworten zu finden. Wir stehen hier an diesem Stein, weil er sagt, dass wir die Vergangenheit nicht verleugnen wollen.

Wir dürfen die Verbrechen des Nationalsozialismus nicht relativieren, sondern wollen, durch Erinnern, eine Mahnung aussprechen. Lassen Sie uns unseren Gedanken und Gefühlen Raum geben, sie mit unseren individuellen Erinnerungen, Befürchtungen und Hoffnungen verknüpfen. Uns, die wir hier stehen, eint das tiefe Verständnis für Schuld und historische Verantwortung. Die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte muss weitergehen.

Wir wollen heute am 8. Mai erinnern, an die Opfer des Nationalsozialismus, an die Opfer des Krieges, des barbarischen Tötens und einer verbrecherischen und menschenverachtenden Ideologie. Wir wollen heute am 8. Mai auch an die Menschen erinnern, die sich im Widerstand organisiert hatten, die couragiert gegen den Nationalsozialismus eintraten und ihr Leben riskierten oder opferten. Wir wollen den 8. Mai als Tag der Befreiung begehen.

Die Transformation zu einer demokratischen Gesellschaft dauerte lange, sie ist empfindlich und muss von uns allen täglich neu gestaltet werden.

Mir graust es, wenn ich die Entwicklung in den letzten Jahren betrachte. Der Geist, der die Menschenwürde in Frage stellt, zeigt vielerorts wieder seine hässliche Fratze. Hass breitet sich aus, Hetze setzt sich durch.

75 Jahre nach der „Stunde Null“ ist die AFD mit 91 Abgeordneten im 19. Deutschen Bundestag vertreten. 75 Jahre nach der „Stunde Null“ hält Alexander Gauland den Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland für eine „große Niederlage“. 75 Jahre nach der „Stunde Null“ kommt es zu fremdenfeindlichen und antisemitischen Übergriffen. Der Anschlag auf die Synagoge in Halle im letzten Jahr, der Mord an Walter Lübcke, der Anschlag im nahen Hanau mit zehn Opfern am 19. Februar diesen Jahres, zeigen, dass unsere freie und offene Gesellschaft täglich verteidigt werden muss.

Unser Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagt: „Jeder Mensch, der in unserem gemeinsamen Land lebt, muss in Sicherheit und Frieden leben können.“ Meine Damen und Herren, liebe Freunde, Frieden kommt nicht von selbst, er bedarf unseres aktiven Einsatzes. Es ist unsere Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass Rassismus, Antisemitismus und jede Form von Diskriminierung in unserem Land niemals mehr geduldet werden. Wir müssen uns wehren gegen faschistisches Gedankengut und antidemokratische Tendenzen. Wir müssen Erinnern und nicht Vergessen. Wir müssen die Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft verknüpfen. Wir treten ein für Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung. Wir treten ein für das „Nie wieder“.

Unser Land ist bunt, multireligiös und multikulturell. Oberursel ist bunt, international und offen. Wir leben tolerant zusammen und das muss so bleiben.

Ich bin froh, dass wir heute hier zusammen stehen, am 8. Mai, der unser demokratisches Deutschland erst möglich gemacht hat. Vielen Dank.

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